Reisebericht Türkei, 5. Teil


Kusadasi 1966

"Emek Palas-Oteli" - Palast-Hotel - welch grandiose Übertreibung! Es handelte sich hierbei um ein zweigeschossiges, sehr spartanisch eingerichtetes, einfachstes Nullsternehotel mit einem kleinen Swimmingpool. Unser weiß getünchtes, winziges Zimmer enthielt nur einen kleinen Schrank, zwei schmale Betten und einen wackeligen Stuhl. Ansprüche stellten wir nicht, denn der Preis war für ein Strandhotel niedrig und ließ daher kein Begehr auf Komfort zu. Außerdem hinterließ unsere Adresse auf den Ansichtskarten einen hervorragenden Eindruck. Es waren außer uns nur wenige Gäste, die auch nur immer eine sehr kurze Zeit blieben, in dem Hotel. Unmittelbar ihm gegenüber lag der Strand, der gegenwärtig unter dem Namen Yeşil Plaj - Green Beach bekannt ist. Um zu ihm zu gelangen war nur die schmale Küstenstraße, die unweit von hier endete und deshalb kaum befahren war, zu überqueren. Der kleine Sandstrand an der sichelförmigen Bucht war vielleicht 100 Meter breit. Links und rechts daneben kamen kurze felsige Abschnitte, die wiederum von senkrechten Klippen begrenzt wurden. Etwas weiter hinter der südlichen Klippe befand sich noch eine winzige, einsame Sandbucht, die Rolf später die "Bucht der Pinseläffchen" nannte. Unser Strand wurde regelmäßig mit Seegras und Tang überspült. Wenn die Flut sich zurückzog trocknete rasch das struppige Grün und es roch nach Meer und nach Leben und Tod. Hinten am Horizont war deutlich die Silhouette der griechischen Insel Samos zu sehen. An manchen Abenden ging an dieser Stelle die Sonne mit rot glühendem Spektakel unter und tauchte alles in ein wunderschön warmes Licht. Am Rande der Straße und unmittelbar am Strand befand sich eine zementierte Fläche, darauf waren ein paar kleine Tische und Stühle verteilt. Gegen Sonne und Regen schützte ein abschüssiges Wellblechdach. Auf der offenen Feuerstelle eines eisernen Herdes wurden Kleinigkeiten zubereitet, und ein großer Kühlschrank beherbergte gekühlte Getränke zum Wohlsein der wenigen Gäste. Das war unser Strandlokal.
Außer dem Palast-Hotel des Herrn Emek befanden sich noch zwei, drei kleine Pensionen in der Nachbarschaft. Kleine Wohnhäuser verloren sich an der Straße und verteilten sich großzügig hinter niedrigem Gebüsch bis hinauf zu den Erhebungen, von denen man einen schönen Blick über das Dorf, den Strand und das Meer hatte. Dieses war nun für ein paar Wochen unsere kleine Welt, denn ringsherum gab es außer schöner Aussicht, vertrocknetem Gras, dürrem Buschwerk, grauem Fels und ein paar Bäumchen nichts. Doch! Etwa eine halbe Fußwegstunde querfeldein südöstlich befand sich in der hügeligen Landschaft eine verlassene, windschiefe Hütte aus altersgebleichtem Holz, neben der auf dem Boden ein leerer Benzinkanister mit der Prägung "Deutsche Wehrmacht" lag. Bestimmt gehörte er einmal zu dem Bus, der uns von Istanbul nach Izmir transportiert hatte.

Gelegentlich verließen wir unser Refugium und verbrachten einen Tag in der Stadt Kusadasi, in Izmir oder in Ephesus. Einmal waren wir sogar zu einer Tasse Tee in das Haus Einheimischer eingeladen worden. Dort saßen wir gemeinsam auf der Dachterrasse, verständigten uns mit Händen und Füßen und bemühten uns artig, unseren Gastgebern im Schlürfen des Tees in nichts nachzustehen.

Wenige Deutsche waren hier in der Gegend: Lilo und Arnold aus Hamburg waren mit dem Auto gekommen; zwei Jurastudenten aus Süddeutschland, die kaum ihr Zimmer verließen und unentwegt Gesetzestexte büffelten; eine ältliche Frau, die die Angewohnheit hatte, während der Dunkelheit nackt zu baden. Obendrein waren zwei Mädchen aus Wiesbaden da, in die wir uns verknallten.

Den Strand brauchten wir uns also nicht mit vielen Menschen zu teilen; meistens hatten wir ihn nur für uns. Wir breiteten nach unserem Frühstücks-Menemen (Rezept siehe Kapitel 9) unsere Decken aus - Strandliegen gab es nicht -, wateten wie Störche durch das Seegras, schwammen viel in dem warmen Wasser des seichten Gestades, lasen, rauchten, dösten, schmiedeten Pläne, tranken Wasser, verbrannten uns die Haut und warteten auf den Abend. Dieses war die Grundstruktur unseres Strandlebens.

Es gab aber Variationen, die auf die oben dargestellte Grundstruktur aufsetzten.

Wenn sich Einheimische zu uns gesellten, was oft vorkam, dann wurde Weltpolitik gemacht. Wenn dann im weiteren Verlauf des Tages der Blick unserer türkischen Freunde in Richtung des griechischen Samos' schweifte und sich verfinsterte wussten wir bald, was für ein Ritual unausweichlich folgen würde: Jemand würde nach Bier und Raki schicken. Ein paar hastige Schlucke aus den Gläsern und schon liefen die Männer ans Ufer des Meeres und fuhren mit einer fahrigen Bewegung die waagerecht ausgestreckten Hände dicht an ihre Kehlen und riefen laut aus: "Makarios! Ritz, ritz!" Das war sinnbildlich dafür, dem verhassten Erzbischof von Zypern, Makarios, die Kehle durchzuschneiden. Anschließend wurde dem englischen Königshaus der Garaus gemacht. Den Menschen war nach diesem Ausbruch leichter zu Mute. Es folgte die Beteuerung der deutsch-türkischen Freundschaft und es wurde an das gemeinsame Bündnis vergangener Zeit, den ruhmreichen Kemal Pasa, den sie Atatürk nannten, und Kaiser Wilhelm II. erinnert. Zwischenzeitlich war dann auch schon die zweite Flasche Raki geleert und manchmal wurde nach einer weiteren geschickt. Das war die erste Variation.

Die zweite Variation war die Anwesenheit der Mädchen aus Wiesbaden. Wegen ihrer lustigen Zöpfe wollen wir sie "Pinseläffchen" nennen. Dann gab es keinen Raki, sondern roten Sekt, den wir gemeinsam, manchmal auch an der kleinen Bucht südlich der Klippe tranken. Ungefragt erhielten Rolf und ich zum Frühstück am nächsten Morgen im Strandlokal eine extra große Portion Menemen zum selben Preis.

Die dritte Variation schlug dem Fass den Boden aus. Glücklicherweise ereignete sie sich nur einmal. Rolf und ich hatten gerade die Variation Nr. 1 bis zur Beschwörung der deutsch-türkischen Freundschaft durchlebt, als mit rutschenden Reifen Sand aufwirbelnd auf dem Strand der Polizei-Jeep hielt. Aufregung! Was ist los? Ich wartete auf das Wort "Mahkûmsunuz". Wir hatten nichts Unrechtes getan. Hasch gab es zu dieser Zeit hier nicht; erst 3000 km weiter östlich, in Afghanistan. Wir hatten uns nichts vorzuwerfen. Mahkûmsunuz! Sie sind verhaftet! Ein Albtraum machte sich breit. Was wollen die von uns? Wir tasteten unbewusst nach unseren Pässen, die sich aber im Hotelsafe befanden. Vier bewaffnete Uniformierte stiegen aus, sahen uns prüfend an, bewegten sich langsam auf uns zu und senkten mehr und mehr ihre Blicke verlangend.... auf unseren Raki. Mit Handschlag wurden Rolf und ich von ihnen wie alte Bekannte begrüßt. Ohne zu fragen setzten sie sich zu uns auf die Decken, tranken von dem Bier und dem Schnaps und holten mehr. Andere Türken gesellten sich zu uns. Das war ein Gelage! Makarios und Elizabeth mussten mehrfach ihr Leben lassen. Der Oberleutnant, Vorgesetzter seiner Mannschaft, schickte unentwegt nach Bier und Yeni Raki. Uns konnte das nur recht sein, denn wir brauchten nichts zu bezahlen. Wir prosteten uns zu, umarmten uns und tranken Brüderschaft. Es war dunkel, wir waren blau. Wie hatten wir uns eigentlich verständigt? Ein rudimentäres Englisch beherrschte nur der Offizier. Wie üblich verwässerte unter Alkoholeinfluss die Sprache mehr und mehr in Richtung Gestik, die Zunge verwandelte sich gleichsam in eine Wolldecke. Und so entwickelte sich auch bei uns im Laufe der Nacht das bekannte Phänomen: je weniger man verstand, um so besser verstand man sich. Das einzig vernünftig artikulierte war der Schluckauf. Ewige Verbrüderung war angesagt, Freundschaften wurden beschworen. Und das wurde mit weiteren Schlucken aus der Flasche besiegelt. Taumelnd wankten gegen Mitternacht die Polizisten zu ihrem Jeep und luden Rolf und mich ein, jetzt das Gefängnis von Kusadasi zu besichtigen. Weil einer der Polizisten ständig wegen seiner Trunkenheit in den Sand fiel, wurde Rolf vom Oberleutnant dazu bestimmt, die Maschinenpistole dieses Mannes zu tragen. Sternhagelvoll fuhren wir mit dem offenen Jeep im Zickzack in Richtung Kusadasi. Unterwegs übergab ich mich einmal aus dem fahrenden Fahrzeug. War mir schlecht! In meinem Kopf übte sich jemand in der Disziplin des Hammerwerfens.

Die Führung durch den Knast kann ich heute nicht mehr in Details nachvollziehen. Zu sehr sind diese Stunden wie in einem dichten Nebel verschwunden. Gefangene habe ich jedenfalls nicht gesehen. Ich weiß auch nicht mehr, wie und wann wir irgendwann im Morgengrauen zu unserem Hotel zurückgefunden haben. Die großen Augen der wachhabenden Polizisten sehe ich aber heute noch deutlich vor mir, als sie die seltsam schwankende Truppe und den mit einer Maschinenpistole bewaffneten Zivilisten in ihrem Revier sahen. Am folgenden Tag waren Rolf und ich fürchterlich verkatert und lebten sittsam im Rahmen der Grundstruktur, allerdings ohne Frühstück, dafür mit kalten Umschlägen und dem Schwur, nie wieder Alkohol trinken zu wollen.

Die vierte Variation gab es auch nur einmal. Die Mädchen hatten sich am Vorabend in der "Bucht der Pinseläffchen" von uns verabschiedet, weil ihr Urlaub beendet war. Am nächsten Nachmittag, während der Grundstruktur, angereichert durch ein paar Bier, bemerkten wir wohlwollend, dass unsere türkischen Freunde uns heute taktvoll in Ruhe ließen. Der lange Tag neigte sich dem Ende zu. Plötzlich war uns einsam. Wie üblich war das Meer milde gestimmt, der Himmel tauchte sich scheinbar nur für uns in ein besonders schönes Purpur. Rolf kaufte zwei Flaschen roten Sekt, wir schnappten uns zwei Stühle und setzten uns mit insgesamt 12 Beinen ins Wasser und blickten in die Ferne. Der Sekt schmeckte uns nicht; wir schwiegen uns an. Rolf holte seinen alten Weltempfänger. Nachdem er ihn eingeschaltet und ein paar Minuten den Äther nach Musik durchstöbert hatte, hörten wir deutlich und klar Mozarts Klarinettenkonzert in A-Dur. Wir lauschten den genialen Klängen, sahen gedankenverloren, wehmütig und schweigsam in den Horizont und beobachteten das Farbenspiel am Firmament. "Die goldene Spur war aufgeblitzt, ich war ans Ewige erinnert, an Mozart, an die Sterne" (Hermann Hesse). Und wir gingen erst, als uns längst die sternenklare Nacht mit ihrem samtweichen Tuch umhüllte - vorbei an unseren schweigsamen, weisen Freunden.

Fortsetzung 6. Kapitel:  Ephesos

 

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