Eine Nacht im Oktober

Manöverfahrt mit "Zerstörer 1" im Verband des

Ersten Zerstörergeschwaders, Kiel,

am 30./31. Oktober 1961

 von Lothar Soll, Plön

Z 2 nach dem Auslaufen in Brest 1962

  

Nordsee, Deutsche Bucht, 30. Oktober 1961

 Am Nachmittag des 30. Oktober 1961 liegt unser Zerstörergeschwader in der Schleuse Brunsbüttelkoog, um zu einer Jagdübung gegen Unterseeboote in die Nordsee auszulaufen. Die Wetterfrösche haben für die kommende Nacht einen Sturm angesagt. Durch einen Zufall erfahre auch ich nichts davon. Auf dem Achterschiff werden Strecktaue gespannt, an denen man sich bei einem Überholen des Schiffes festhalten kann, um nicht über Bord gespült zu werden. Strecktaue werden oft gespannt; so schauen die meisten gar nicht hin. Um sechzehn Uhr räume ich meinen Arbeitsplatz in der Schreibstube unseres Zerstörers auf, lege Akten und mein erst am 29. Oktober auf dem Hindenburgufer mehr unfreiwillig erworbenes Lexikon mit vier Bänden auf den Schreibtisch, stelle die Schreibmaschine daneben und genieße gutgelaunt mein Abendessen.

 Eine Stunde später beobachte ich, wie der messerscharfe Bug unseres Schiffes durch das graue Wasser der Elbe pflügt. Es weht ein frischer Wind, die Wellen werfen kleine Schaumköpfe auf, und die Möwen segeln kreischend über uns hinweg. In der "Cafeteria", wie wir unseren Essen- und Aufenthaltsraum an Bord nennen, wird Bier getrunken, Schach gespielt oder über die letzten Erlebnisse an Land vor dem Auslaufen aus Kiel diskutiert. Einige Minuten lang höre ich dem lustigen Treiben zu und lege mich schlafen. Durch die Lautsprecher gibt der Erste Offizier bekannt, daß wir soeben das Feuerschiff "Elbe 3" passieren. Sekunden später schlafe ich ein.

Im Traum werde ich heftig in meiner Koje hin und her geschüttelt. Riesenwogen rollen auf unser Schiff zu. Ich glaube die Bierflaschen zu hören, die bei jedem Überholen des Schiffes im Seegang quer durchs Deck rollen und die trotzdem niemand aufhebt. Ungeputzte Schuhe, schmutzige Seemannsklamotten, große und kleine Kisten und Kästen kommen aus dunklen Winkeln hervor und versperren die schmalen Gänge in unserem Schlafdeck. Der junge Kamerad, der über mir schläft, wirft sich immer wieder von der einen auf die andere Körperseite. Plötzlich flucht er laut auf. Jetzt erkenne ich, daß das kein Traum mehr ist. Schnell schaue ich auf die Uhr: noch nicht Mitternacht! Ich begreife, daß der Zerstörer gegen einen schweren Sturm ankämpft. Er arbeitet schwer in der groben See. Keiner mehr kann schlafen. Mühsam, um nicht herauszufallen, klammern wir uns an den Kojen fest. Die tonnenschweren Anker beginnen in ihren Klüsen zu schlagen und scheinen das Vorschiff abreißen zu wollen.

 Nordsee, Deutsche Bucht, 31. Oktober 1961

 Diesem Durcheinander ist mein Magen irgendwann nicht gewachsen – ich werde einfach seekrank. Mühsam kämpfe ich mich zur kleinen Toilette im Vorschiff durch. Ich dem Abort bin ich wider Erwarten nicht allein. Ältere Kameraden, die schon lange zur See fahren, teilen mein undankbares Los. Die Seekrankheit und das wie ein verrückt gewordener Fahrstuhl hinauf und hinunter fahrende Schiff und dazu auch noch dieses irre Schaukeln nach links und rechts schütteln uns unerbittlich durch. Zwei unendlich lange Stunden dauert dieses wahrhaftige Leiden. Ich falle erschöpft in meine Koje; gottseidank übermannt mich der Schlaf sofort.

 Minuten später fällt mir ein Buch, das ich zuvor in den Kabelbahnen über meinem Kopf verstaut hatte, ins Gesicht. Erschreckt richte ich mich auf und stoße mich dem Kopf gegen die scharfe Kante einer anderen Koje. Wenigstens mein Magen scheint jetzt in Ordnung zu sein. Ich bin noch benommen, als der Läufer Brücke mir den unerwarteten Befehl des Ersten Offiziers übermittelt, von vier bis acht Uhr auf der Brücke die sogenannte "Hundewache" zu übernehmen. Mein Gott, das ist ja entsetzlich.

 Unter meiner Koje finde ich einen Schlüssel. Da fällt mir ein, daß ich am Abend die Schiffsschreibstube mit all' ihren Akten und Unterlagen und mit meinem schönen neuen vierbändigen Lexikon in meiner Ahnungslosigkeit nicht seefest verschlossen habe. So wird sie jetzt womöglich hoffnungslos unter Wasser stehen. Mir ist inzwischen eher wegen meiner abendlichen Nachlässigkeit einigermaßen elend.

 Die erholsamen, kostbaren Minuten, die ich ohne allzusehr an meinen armen Magen denken zu müssen, in der Koje verbringen darf, verrinnen ohne Gnade. Um halb vier schäle ich mich voller Widerwillen aus der schützenden Decke. Mein Magen dreht sich um, bevor ich mich meine Wachklamotten anziehen kann. Irgendwie gelingt es mir, die meiner Wache zugeteilten acht Mann der Brückenwache zusammenzutrommeln und so die alte Wache abzulösen. Wie ich das geschafft habe, ist mir heute nicht mehr so recht klar. Dazu mußte man sich hin und zurück über ein nachtdunkles, völlig unbeleuchtetes Aufbaudeck ("Kriegsmarsch")vom Vorschiff ohne Strecktaue gegen Sturm und zusätzlichen Fahrtwind bis ins Achterdeck kämpfen, um dort völlig lustlose, erschöpfte, miesepetrige Kameraden aus deren Kojen zu holen. Irgendwann finden wir Neun uns auf der Brücke zusammen, und wir schauen in der schwarzen Nacht auf das Vorschiff, das in immer neuen Brechern geradezu unterzugehen scheint. Nur die etwas helleren Wellenkämme sind schwach zu erkennen. So können wir uns wenigstens in Ansätzen auf das wahnsinnige Schaukeln und Schlingern unseres Schiffes einstellen. Der Dienst als Wachleiter auf der Brücke beansprucht mich ganz und gar, und trotzdem ist mir einfach nur hundeelend. Meine Hoffnung gilt dem neuen Tag, der doch in ungefähr vier Stunden mit seinem Licht kommen muß. Dann bloß die Brecher erkennen können! Ich weiß, daß Wind und Wellen dann vieles von ihrem Schrecken verlieren werden. Doch weit ist noch der Weg.

 Wir sind draußen auf den Brückennocken naß bis auf die Haut; Salz auf den Lippen, auf der Uniform, an den Gegenständen, die man anfaßt. Grauschwarze Brecher fegen über das Vorschiff und sogar über die Brücke hinweg. Es ist dunkel und kalt; ein trockener Platz ist nirgends zu finden. Unsere drei Schiffe steuern offenbar direkt gegen die See. Am Maschinentelegrafen lese ich die Geschwindigkeit ab, die wir laufen: einundzwanzig Knoten. Wir fahren also mit fast vierzig Stundenkilometern in die krachenden Seen hinein. Der Erste Offizier, der selbst sichtlich von dieser Nacht gezeichnet ist, bietet mir einen Zwieback an. Ich kaue eine halbe Stunde vergebens gegen meinen leeren Magen an; der Hals ist zu trocken. Dann muß ich mich auf der Brücke wieder übergeben. Der Zerstörer holt weit über. Die Bewegung bemerke ich diesesmal zu spät, so daß ich mit dem Hinterkopf auf den mit Holzgrätings ausgelegten Boden stürze. Der Kopf schmerzt, doch darauf achte ich kaum noch, weil mir das endlose Würgen im leeren Magen fast den Verstand raubt. Ich reiße mich zusammen, weil ich von hier nicht einfach verschwinden kann, denn diese Sturmfahrt erfordert die Wachsamkeit eines jeden Einzelnen. Die Stunden vergehen langsamer denn je.

 Mit einem schwachen grauen Streifen kündigt sich im Osten endlich der neue Tag an. Der Maschinenleitstand meldet, daß Seewasser in die Schreibstube eingedrungen sei und die Einrichtung schwer in Mitleidenschaft gezogen habe. Ach ja, meine Schiffschreibstube. Nun, in einer Stunde ist diese Wache zu Ende, und dann wird man schon weitersehen. Vielleicht ist ja alles halb so schlimm. Ich blicke nach Osten und kann manchmal Sterne zu uns hinabblinken sehen. Sollte der Himmel aufreißen? Ganz langsam steigt von Osten der neue Tag herauf; ich fühle, wie die Lebenskraft wieder erwacht.

 Der Sturm tobt weiter mit unverminderter Kraft. Über die Bordsprechanlage wecke ich ohne weitere Mühe die neue Wache. Um acht Uhr hangeln sich die Neuen über den schmalen Niedergang zur Brücke empor, manche halten das halbverzehrte Stück Brot noch in der Hand. Im Brückenhaus spreche ich mit meinem Nachfolger. Er erzählt einen Witz, und ich lache unwillkürlich laut auf. Ist das Leben nicht schön nach solch einer Nacht?

 

Zerstörer 1 in schwerer See vor den USA

 

Überall auf dem Schiff regt sich Leben, daß es summt wie in einem Bienenhaus. Mit dem Rücken in eine Ecke des Brückenhauses gestemmt genieße ich eine heiße Tasse Kaffee Zug um Zug. Er schmeckt wunderbar. Von irgendwoher hört man Musik. Ich trete nach draußen und stehe auf einmal im strahlenden Glanz – dem unerwarteten Licht der Sonne am Morgen des 31. Oktober 1961.

 

Plön, 14. Januar 2007

 Wir hatten am Abend im Radio wieder einmal eine Unwetterwarnung gehört. Mitten in der Nacht prasselt der sturmgepeitschte Regen gegen unser Schlafzimmerfenster. Ich liege wach, und ich stelle mir vor, was jetzt wieder in der Nordsee los sein wird. Dort befinden sich abermals Männer und Frauen, die sich auf ihren Schiffen durch die Brecher und womöglich um ihr Leben kämpfen müssen. Die Sturmfahrt in der Nacht zum 31. Oktober 1961 kehrt bis in ihre Einzelheiten in mein Gedächtnis zurück. Ich denke an die drei jungen Menschen, die während der Zeit meiner Zugehörigkeit zum Ersten Zerstörergeschwader – April 1961 bis Dezember 1964 - auf unseren drei Schiffen auf Nimmerwiedersehen über Bord gegangen oder durch Brecher erschlagen worden sind.

 Zu meiner Geschichte bleibt nachzutragen, daß alle drei Zerstörer im November 1961 infolge erheblicher Seeschäden in die Werft mußten. So war einem der Schiffe ein Anker mitsamt Kette in die See gerauscht; dort in der Nähe von Helgoland liegen die tonnenschweren Teile vielleicht immer noch. Wir selbst hatten wegen einer nach Wellenschlag aus dem Fundament gehobenen 12,76 cm-Geschützbettung einen erheblichen Wassereinbruch im Vorschiff. Das Geschütz mußte danach ausgetauscht werden. Und auch heute noch sehe ich den Heizer-Obermaat, wie er am Vormittag des 31. Oktober 1961 sein – damals noch schweres und offenbar nutzlos gewordenes - "Magnetophonbandgerät" unter großer Anteilnahme der wiedererwachenden Besatzung über die Reling wuchtet. Mein damals nagelneues vierbändiges Lexikon steht nach wie vor ziemlich zerfleddert zu Hause im Bücherregal.

 Niemals auch werde ich den Moment meines bangen Blicks im ersten Licht des neuen Tages in die Schiffsschreibstube vergessen. Dort durfte ich dann zusehen, wie die auf den Fußboden gestürzte große Olympia-Schreibmaschine im hin- und herrauschenden Seewasser und inmitten der Büroausstattung lustige kleine Schaumköpfe machte. Solch einen witzig-dramatischen Anblick hätten die Filmfritzen erst einmal erfinden müssen.

 Nachzutragen bleibt schließlich, daß sich die ganze Geschichte so abgespielt hat, wie ich sie als Schüler der Abendrealschule in Kiel am 13. September 1965 auf Veranlassung unseres damaligen Deutschlehrers Herrn Windmüller als Hausaufgabe niedergeschrieben und wie ich sie jetzt nachempfunden habe. Genauso ist es gewesen. Im Grunde war die Sache ein großes Abenteuer; viele Sturmfahrten sollten ja auch noch folgen. Wer die Natur in dieser Ursprünglichkeit nicht erleben durfte, hat für sein Leben vielleicht doch einiges versäumt.

 Die Nacht vom 30. auf den 31. Oktober 1961 wird mir stets in einem solch tiefen Gedächtnis bleiben, daß ich zu keiner Zeit, weder vor inzwischen fünfundvierzig Jahren noch bis heute, meinen Erinnerungen an dieses Ereignis irgend etwas hätte hinzudichten müssen.

 

Titelfoto:     31. Oktober 1962 – "Zerstörer 2" nach dem Auslaufen aus  Brest/Normandie in der Biskaya (Foto Lothar Soll)

Foto unten: 2. Juni 1963 – Unser Schiff in schwerer See vor der Küste der U.S.A. (Foto: unbekannt)

 

Zerstörer 1